Leseprobe

aus dem 5. Kapitel:

 

Dieser Weiher. Er übte einen Sog aus. Er lag am Ende des Dorfs, hinter einem Schilfwald. Still wie der Tod lag er und übte diesen Sog aus. Auf jeden, glaube ich. Aber im Sommer war er für Kinder verboten. Für alle, außer für mich.

 

Die Wiesen dort waren feucht und fett. Ein modriger Geruch hing in der Luft. Flecken gelbgrüner Entengrütze schwammen auf der dunklen Oberfläche, und Libellen standen in reglosen Wolken darüber. Spinnen liefen langbeinig über das Wasser, als wäre es fest. Ich ging immer hin, um Kaulquappen zu fangen. Manchmal schloss sich Jenny Ziegler mir an, aber sie sah sich dauernd um und jammerte.

 

„Es ist doch verboten, Mila!“
Ich reagierte nicht.
„Und es stinkt so. Als ob ...“ Sie verstummte und ging schneller, bis sie mit mir auf gleicher Höhe lief. Sie betrachtete sehr aufmerksam das Schilf, in das wir jetzt hineingingen. Es reichte bis über unsere Köpfe. Sie griff nach meiner Hand. „Als ob ...“

„Als ob was?“
„Na ja ...“ sagte sie nervös und leckte sich über die trockenen Lippen. „Du weißt schon: als ob etwas ... etwas ...“

„... Totes im Wasser ist?“

Jenny Ziegler zuckte zusammen.

 
Es gab eine Geschichte in Schönewalde. Vor Jahren war einmal ein Mädchen verschwunden. Sie hatten sie überall gesucht. Erst hatten sie den Wald durchkämmt, dann die Felder, und schließlich wurde der Weiher mit Stöcken abgesucht. Und dort hatte man sie endlich gefunden. Sie war nicht ertrunken. Sie war ertränkt worden. Man habe sie aus dem Weiher geborgen, hieß es, aber sie sei nicht vollständig gewesen. Etwas Wichtiges an ihr hatte gefehlt.

 
Dieses Etwas ließ mir keine Ruhe. Mir nicht, Jenny nicht und auch keinem anderen meiner Mitschüler. Es geisterte durch unsere Träume. Manchmal schreckte ich nachts hoch, weil ich von einer Armee abgetrennter Hände, Nasen und Finger verfolgt worden war.

Aber vielleicht war das Etwas noch etwas ganz anderes?


Wenn wir die Erwachsenen darüber ausfragen wollten, sagten sie: „Das ist doch alles Blödsinn. Der Schäfer hat einmal die Nachgeburten seiner Schafe in dem See entsorgt, das ist alles.“ Sie sagten: „Das ist nur ein dummes Gerücht.“ Oder sie wurden schweigsam, sahen uns abweisend an und schickten uns weg. So aber huschte das Gerücht flüsternd zwischen uns Kindern hin und her, und das Unbegreifliche hielt sich darin und wuchs. Ich sah von der Seite zu Jenny, die jetzt mit aufgerissenen Augen auf das Wasser starrte.
 
„Du denkst doch nicht etwa an die Nachgeburten, oder?“, flüsterte ich.
„Woran denn sonst?“ Jennys Stimme klang piepsig.
„An ... etwas anderes.“

 

Offiziell tat natürlich jeder so, als wäre diese Geschichte mit den Nachgeburten der Grund, weshalb der Weiher gemieden wurde. Doch wenn jemand am Ufer stand und in das trübe Wasser schaute, sah keiner eine Nachgeburt dort auf dem Grund, sondern etwas anderes. Etwas Unkenntliches, etwas Formloses. Etwas, was dem ermordeten Mädchen fehlte, als es aus dem Weiher gezogen wurde. Es lag da unten. Vollgesogen, schlafend und von Fischen angenagt.

 

(c) Uwe Schwarze
(c) Uwe Schwarze