Mein Lieber,
noch keine Antwort von dir. Vielleicht hast du dich nicht erkannt. Vielleicht bist du dir fremd als Hauptfigur in meinem Bild von Erfurt.
Aber auch ich hatte Erfurt nicht erkannt. Ja, ich hatte Reiseführer gesichtet, ferngesehen, und ich kannte es aus Euren Worten. Aus Fotos auch, die in meinem Gehirn abgelegt sind, Polaroids, Jahre her. All dies: Ein Andenken, mitten in der Bewegung erstarrt. Nichts davon stimmte, als ich herkam.
Das Klingeln zum Beispiel. Daran habe ich keine Erinnerung.
Seit ich hier bin, begleitet dieses Klingeln mich auf Schritt und Tritt. Wäre es nicht so kreischend, daß mir jedesmal das Blut in den Adern stockt und ich mit einem Hechtsprung das Weite suche, müßte ich es fast schon als Freund bezeichnen. So treu ist es mir. Kleiner, schriller Freund. Wenn ich arglos durch die Stadt gehe. Wenn ich die Fassaden emporschaue und nicht auf die Straße achte. "Rrrring!!!" Und ich zucke zusammen, ich ducke mich, spritze zur Seite. Ein Luftzug streift mein Gesicht, dann saust die Straßenbahn vorbei.
Die Bahnen fahren hier auf den Bürgersteigen, weißt du, oder nein, die Bürgersteige laufen übergangslos in die Schienenstränge hinein. Unbegreiflich, daß nicht alle Viertelstunde ein Unfall geschieht!
Ich hab mich heute in eine geschützte Ecke gestellt, um dieses Verkehrsphänomen zu beobachten. Die bewundernswerte Forschheit, mit der die Bahnführer das Gewimmel durchschneiden. Die schlafwandlerische Sicherheit, mit der dieErfurter ausweichen. Ohne hinzuschauen, ohne Hektik zu zeigen. Ohne so ungraziöse Hechtsprünge zu vollführen wie ich. Als gäbe es ein geheimes Signal irgendwo, oder als tanzten sie, dachte ich, sie scheinen den Takt, mit dem die Bahnen die Stunden kreuzen, im Blut zu haben.
So wie ich dich im Blut habe.
„Wer bin ich für dich, mit wem verwechselst du mich?“ hast du einmal gefragt.
„Ich verwechsle dich nicht. Du bist mein Bruder.“
„Unsinn“, sagtest du.
Und was wäre, wenn ich dich bräuchte, anders als einen Bruder und anders als einen Geliebten. Wenn ich dich bräuchte wie nur jemanden, den man sich wählt?
„Man muß eine ganz andere Arbeit aufwenden, um im Nachhinein einen Bruder zu haben“, sagte ich. „Man muß ihn erfinden.“
Wie diese Stadt. Die für mich greifbar, be-greifbar wird, wenn ich sie über meine Finger in die Tastatur laufen lasse. Wenn sie zu Worten wird. Diese Stadt, die Häuser trägt, die bis zum Knöchel im Wasser waten. Deren Mauern tags von Enten umschnattert und nachts von Fischen besaugt werden. Verandas schwimmen dort, hochbeinige Cafés, an deren Relings Fackeln stecken, die im Sommer knistern werden. Stühle stehen auf den Planken und sogar Pinguine aus Holz. Zwei Pinguine in Erfurt. So eine Stadt! Über die der Frühling Sonne gießt. Mein Computer fließt über. Diese Stadt, die ich dir schreibe, und die mir während des Klackerns der Tastatur von einem Schwarzweißfilm in Farbe übertritt.
Ja, was wäre, wenn ich dich erfinden würde? Dich oder diese Stadt. Wenn ihr erst im nächtlichen Schein des Monitors, mit dem Rauschen der Gera hinter den Fenstern, entsteht? Ein Schriftzug am Bildschirm.
„Es erfordert ekstatische Behutsamkeit“, sagte ich dir, und du würdest deutlicher werden von Brief zu Brief. Wer wäre realer am Ende? Du oder der, den ich hier anspreche?
Wenn ich hinausgehe, um den Brief abzuschicken, den so viele lesen werden, daß die Hoffnung steigt, daß du darunter bist, wird es „Rrrring!!!“ machen auf der Straße. Ich sollte vielleicht neonfarbene Sachen tragen. Damit die Bahnführer mich schon von weitem erkennen. Oder du.